Sterni vs. Astra – Reise ans Millerntor (Teil 1)
Die Müdigkeit stand den Meisten noch im Gesicht geschrieben, als man sich in arger Frühe am Abfahrtsort traf. Nach kurzem Umsehen hatte man die bekannten Gesichter entdeckt und die Laune schoss in die Höhe. Die Müdigkeit wich allmählich. Nach ein paar vorbeigefahrenen Zügen hielt dann auch endlich unser Sonderzug vor uns. Die Türen öffneten sich und wir machten es uns in einem der hinteren Wagen des Zuges bequem. Kaum hing die Ballistenfahne, drehten sich schon die Räder. Ein langer Tag nahm Fahrt auf …
Nach überraschend kurzer und ausgelassener Fahrt rollten die Wagons in den Hauptbahnhof Hamburgs. Während wenige im Chaos des angekommenen Zuges Jacken, Portemonnaie oder Tickets suchten, sammelte sich die Meute schon auf dem Bahnsteig. Die ersten Gesänge schallten durch die Bahnhofshallen und die „Spätzünder“ schlossen auf. Mit von Hamburger Beamten dirigierten Laufwegen fanden wir uns nun in der U-Bahn wieder. Einer kleinen Sightseeingtour glich unsere U-Bahnfahrt, bei der wir von der teilweise hochgelegenen Trasse Ausblick auf das ganze Hafenareal Hamburgs hatten. Nach ein paar Metern per pedes standen wir auch schon vor den Toren des Gästeeingangs am berühmten Millerntorstadion. Im Hintergrund der Kiez und zur Seite dieser riesige Betonkoloss - einer der beiden noch erhaltenen Flaktürme Hamburgs - und wir starrten mit strahlenden Augen unter der prasselnden Sonne in den Innenraum auf die Tribünen.
Nach einigen Minuten Wartezeit und einem Startzeichen konnte der Einlass endlich beginnen. Im Gegensatz zu den mitgefahrenen Leipziger Ordnern erlebten wir am Einlass auf Sankt Pauli ganz andere Szenen. Die relaxten Mitarbeiter hatten und machten keine Probleme mit unserem Material und so standen wir schnell auf den provisorischen Metalltraversen des Gästeblocks. Zügig wurde Fahnenmaterial verteilt. Mittig, und sehr gut sichtbar, positionierten wir das „Leipzig überall“-Banner. Da hatten die Ersten dann auch schon ein gutes Astra in den Händen. Unter dem immer noch heftigen Sonnenlicht saßen wir auf der Tribüne, tranken unser Bier und hatten noch zwei Stunden zu warten, ehe der Spielanpfiff erfolgen würde.
Wir guckten in ein ziemlich leeres Rund und hatten uns in kurzer Zeit in dessen Charme und Besonderheiten verliebt. Während Stadien in der zweiten Bundesliga für gewöhnlich einem bestimmten Stereotyp von Fussball- oder Mehrzweckarena folgen, sticht das Millerntor als einziges aus dieser ziemlich monochromen Masse hervor. Die Gegengerade, die fast ausschließlich Steher bietet, faszinierte uns. „Kein Fussball den Faschisten“ - unübersehbar über jenen - ein Statement in dieser Deutlichkeit könnten wir im Zentralstadion nur begrüßen. Generell die gesamte Gestaltung des Stadioninneren, von den in Vereinsfarben bemalten Treppenstufen über den großen „Voran Sankt Pauli“-Schriftzug im Heimblock bis zu den Graffiti an den Getränkeständen, imponierte uns.
‚Das hier ist Fussball, das hier sind Dramen.‘
Ein Spruchband mit diesem Wortlaut hing schon die ganze Weile, die wir im Stadion waren, am Zaun der Paulikurve. Seine wirkliche Bedeutung bekam es jedoch erst zu Spielbeginn. Bei der Vereinshymne begriffen wir die außergewöhnliche Stimmung im Millerntor. Den kompletten Text über blieb das Stadion auf einem konstanten Lautstärkeniveau, welches für uns schlicht surreal war. Die Mannschaften liefen schon gen Mittelkreis und wir begannen den Support, da türmte sich hinter einer zuvor hochgezogenen braun weißen Blockfahne schon ein Mix aus bengalischen Lichtern und dichtem Rauch. Eine Pyroshow par excellence! Die Gegengerade präsentierte gleichzeitig eine Chaoschoreo mit einem Meer aus Fahnen, Wurfrollen und Konfetti.
Ein unglaublicher, unvergesslicher Moment - der Rauch aus der Paulikurve stieg schon über unsere Köpfe hinweg und angestachelt vom Flair versuchten wir mit aller Kraft einen anständigen Support auf die Beine zu stellen. Im Millerntor war dieser Versuch aber eher von mäßigem Erfolg gekrönt. Man könnte dies auf das fehlende Dach, die beiden sehr weit voneinander entfernten Gästesektoren, das Wetter oder das Halbzeitergebnis schieben - aber mal ehrlich - was habt ihr denn erwartet? Das wir dem Millerntor-Publikum mit unserer bombastischen Stimmung imponieren können? Wohl kaum. Ein wenig Eindruck konnte wohl einzig durch die Tapete der Rabauken „All Connewitzer Are Beautiful“ - pünktlich nach 13 Minuten und 12 Sekunden Spielzeit entrollt - gemacht werden, welches vor einigen Jahren während eines RSL-Spiels zu einem Polizeieinsatz führte.
Die Proteste gegen unseren Verein beschränkten sich auf das Pausengeschehen, in dem unter anderem ein Graffititranspi entrollt wurde: „cash rules everything around you“. True story! Damit hatte sich die Kritikgeschichte aber auch schon wieder erledigt; im Gegensatz zu den meisten deutschen Fanszenen hatten sich die Paulianer schon vor einigen Jahren mit der Bedeutung und den möglichen Folgen unseres Vereins ernsthaft und kritisch auseinandergesetzt, weswegen es auch nicht für nötig angesehen wurde einer Kampagne wie „Nein zu RB“ beizupflichten.
So wirklich gute Stimmung von unserer Seite wollte nicht mehr aufwallen im zweiten Durchgang und das Spiel ging - ziemlich passend – verloren. Trotzdem fühlte sich im Endeffekt alles wie ein Sieg an, mit der Gegengerade tauschte man nach Spielende Nettigkeiten und Schals aus, man sang zusammen und feierte sich gegenseitig. Die Gastfreundlichkeit auf Sankt Pauli war etwas ganz besonderes, ein einmaliges Erlebnis in einem Land, in dem Fussball oftmals mit substanzlosen und archaischen Traditionsbegriffen, mit dumpfen Kritiken, fehlender Differenzierung und mit Gastfeindseligkeit, bisweilen blankem Hass konnotiert ist. Auf der Rückfahrt durch die Hansestadt entwickelten sich einige gute Gespräche mit Paulianern, bei denen sich letztendlich alle wünschten nächstes Jahr wieder aufeinander zu treffen. Keep on Pauli!
Im Zug ließen wir in entspannten Runden die erlebten Geschehnisse Revue passieren. Mit einer Menge Impulsen und Ideen im Gepäck erreichte der Sonderzug am späteren Abend die Tore Leipzigs. Wir verließen also den Zug und doch die Bilderketten und Klänge spiegelten und hallten in uns weiter. Auf dem von schüttendem Regen begleiteten Heimweg durch die Stadt, fragte sich mancher leise: „Wohin geht unsere Reise?“